Durch den Krieg war das Land verarmt. Der Staat nahm nicht genug ein, um die Beamten zu bezahlen, die Arbeitslosen zu unterstützen, die Lebensmittelpreise zu stützen und all seinen anderen Aufgaben nachzukommen. Er musste Kredite aufnehmen, und zum Teil borgte er sich das Geld bei der eigenen Notenbank aus, das heißt, er ließ Geld drucken. Das Geld wurde immer mehr, doch es gab deswegen nicht mehr zu kaufen. Also stiegen die Preise, das Geld wurde immer weniger wert. Diese Hyperinflation ging vor allem auf Kosten der Lohnabhängigen, die für ihr Gehalt immer weniger kaufen konnten. Die Sozialdemokraten forderten, dass das fehlende Geld durch Besteuerung der Reichen hereingebracht werden sollte, doch die Regierung setzte auf weitere Kredite. Bald hatte die Krone nur mehr ein 14.000stel des Werts von vor dem Krieg.
1922 erhielt Österreich nach Verhandlungen mit dem Völkerbund einen großen Kredit, um seinen Staatshaushalt wieder in Ordnung zu bringen. Da die Verhandlungen in Genf geführt wurden, spricht man von der „Genfer Sanierung“. Für den Kredit bürgten die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und der ČSR. Doch dafür wurden strenge Bedingungen gestellt. Der Staat musste seine Ausgaben verringern: Er entließ oder pensionierte ein Drittel der Bundesbediensteten. Sozialausgaben wurden gestrichen und Massensteuern erhöht. So wurde erreicht, dass der Staatshaushalt bald wieder ausgeglichen war und die Währung – der neu eingeführte Schilling – nun stabil blieb. Doch die Folge für die Menschen war, dass es noch mehr Arbeitslose gab, dass die Massen noch weniger Geld zum Ausgeben hatten und die Wirtschaft daher noch weniger Waren im Inland verkaufen konnte. Um trotz dieser Krise ihre Profite zu halten, senkte die Industrie die Löhne und forderte, den Achtstundentag wieder abzuschaffen.
Während die Arbeiterschaft um einen menschenwürdigen Lebensstandard kämpfen musste, erwarben Spekulanten wie Camillo Castiglioni oder Sigmund Bosel ungeheure Vermögen – und verspielten sie wieder. Streiks und Demonstrationen waren an der Tagesordnung.
Nicht zuletzt wegen der sichtbaren Erfolge in Wien wurde die Sozialdemokratie im ganzen Land stärker. Bei den Wahlen 1923 bekam sie 39,6% der Stimmen, 3,61% mehr als 1920. Auch die Zahl der Parteimitglieder stieg. Doch was der Sozialdemokratie nicht gelang, war, die Bauernschaft für sich zu gewinnen. Die Sozialdemokraten planten, den Großgrundbesitz zu enteignen, und das erschreckte auch die kleinen Bauern, die noch dazu stark an die katholische Kirche gebunden waren.
1926 gab sich die Sozialdemokratische Partei beim Parteitag in Linz ein neues Programm. Darin stand die Forderung nach strenger Durchführung des Achtstundentags, gleichem Lohn für gleiche Arbeit bei Frauen und Männern, Gratisvergabe von Verhütungsmitteln, Straffreiheit für Schwangerschaftsabbruch, Ausbau der Kinderbetreuungsstätten, kostenlose Schulen und Lehrmittel, Gesamtschule, Ausklammerung der Kirche aus den Schulen, Gleichwertigkeit aller Religionsgemeinschaften, Trennung von Kirche und Staat. Das Hauptziel blieb die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung auf demokratischem Weg. Doch die Demokratie musste auch wehrhaft beschützt und verteidigt werden. Die Linken in der Partei zweifelten daran, dass die besitzenden Klassen sich ihre Entmachtung einfach gefallen lassen würden, und dass Bundesheer und Polizei treu zu einer demokratisch gewählten sozialistischen Regierung stehen würden. Daher stand im Programm auch zu lesen, dass im Fall einer Gegenrevolution die Arbeiterschaft die Macht im Staat im Bürgerkrieg erringen und den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur des Proletariats brechen musste. Diese radikale Rhetorik stand im krassen Gegensatz zur tatsächlichen Reformpolitik der SDAP, wie man sie vor allem in Wien sehen konnte.
Bei der Nationalratswahl 1927 konnte die SDAP wieder Stimmen dazu gewinnen. Sie stand jetzt bei 42,3%.
Im Burgenland machte sich der monarchistische Frontkämpferbund gegen die demokratische Republik stark. So baute der Schutzbund auch dort örtliche Organisationen auf. Am 30. Jänner 1927 verantalteten die Frontkämpfer eine Versammlung, der Schutzbund demonstrierte dagegen. Aus einem Gasthaus schossen Frontkämpfer auf die Schutzbündler und töteten einen Mann und ein Kind. Im Juli 1927 wurden die Täter von einem Geschworenengericht freigesprochen. Die Führung der Sozialdemokratie war unschlüssig, wie sie darauf reagieren sollte. Einerseits war es ein krasses Fehlurteil. Andererseits hatte sie für die Einführung von Geschworenengerichten gekämpft. In der Arbeiterzeitung erschien allerdings ein flammender Protest. Demonstrationszüge machten sich auf den Weg in die Stadt. Als sie nicht zum Parlament vordringen konnten, wandte sich ihr Zorn gegen den Justizpalast. Demonstranten drangen ins Haus ein, warfen Akten auf die Straße, zündeten Mobiliar an. Viel zu spät rückte der Schutzbund an, um die Demonstration in geordnete Bahnen zu lenken, konnte aber nichts ausrichten. Die Massen hinderten die Feuerwehr am Löschen. Der Polizeipräsident Schober ließ die Polizisten mit Gewehren ausrüsten. Die Polizisten schossen wahllos in die Menge, 89 Menschen starben, darunter 5 Polizisten. Die Ereignisse des 15. Juli 1927 zeigten, dass die Arbeitermassen keineswegs so diszipliniert der sozialdemokratischen Führung folgten, wie die es gerne sehen wollte. Und sie ermutigten die Gegner der Demokratie, den Weg der bewaffneten Gewalt weiter zu verfolgen.
Die Sozialdemokratie beschloss, den Schutzbund nun ernsthaft militärisch zu trainieren und zu einer disziplinierten Truppe umzugestalten. In der Schutzbundführung war man sich nicht einig über die Strategie. Das Konzept von Major Eifler ging davon aus, dass im Fall eines faschistischen Staatstreichs der Schutzbund wie eine reguläre Truppe gegen Bundesheer und Polizei antreten sollte, um die Republik zu verteidigen. General Körner vertrat die Ansicht, dass in einem solchen Fall der Schutzbund nur im Rahmen eines allgemeinen Volksaufstands erfolgreich sein könnte. Eifler setzte sich durch und Körner trat aus der Schutzbundführung aus.
Der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky, damals Bildungsfunktionär der Sozialistischen Arbeiterjugend, sagte dazu: „Unter dem Kommando von Major Eifler, der ja ein Militär war, und unter denen, die den Schutzbund organisiert hatten, hat man die These vertreten: Zivilisten sollen sich von den Kämpfen fernhalten. Das machen wir, wir sind die Armee. Das war der konzeptive Wahnsinn, den der General Körner schon bekämpft hat. … Entweder man bereitet sich auf einen Bürgerkrieg vor, dann muss jeder an die Front, auch jede Frau, dann muss alles mobilisiert werden, oder man hat eine Privatarmee.“
Da seit der „Genfer Sanierung“ die Arbeitslosigkeit immer hoch blieb, zahlten die UnternehmerInnen sehr niedrige Löhne. „Du bist nicht zufrieden mit dem, was wir zahlen? Da draußen warten noch 100 andere auf deinen Job!“ Die Preise stiegen jedoch. So waren die Arbeitenden immer wieder gezwungen, mit Streiks Lohnerhöhungen zu erkämpfen. Rund eine Million Arbeitende waren in den Freien Gewerkschaften organisiert, die unter sozialdemokratischer Führung standen. Daneben gab es noch die christlichen und deutschnationalen Gewerkschaften. Das Streikrecht und die Gewerkschaften waren der Unternehmerschaft natürlich ein Dorn im Auge. 1928 gründeten in Donawitz, das damals ein Zentrum der Stahlindustrie war, Mitglieder des steirischen Heimatschutzes die „Unabhängige Gewerkschaft“. Diese sogenannte Gewerkschaft wurde direkt von den UnternehmerInnen finanziert, vor allem von der Alpine-Montan-Gesellschaft, die der größte Stahlproduzent war. Diese „gelben Gewerkschaften“, wie die Arbeitenden sie nannten, propagierten den „Wirtschaftsfrieden“ und hatten im Grunde nur die Aufgabe, die ArbeiterInnen von Streiks abzuhalten.
Im August 1929 griff der steirische Heimatschutz eine Festveranstaltung der Sozialdemokraten im steirischen St. Lorenzen an. Es gab eine Schießerei, bei der drei Schutzbündler starben. Die steirischen Behörden hatten nichts unternommen, um die von der Heimwehr geplante Provokation zu unterbinden. Die Christlichsozialen nahmen das Ereignis zum Anlass, eine Verfassungsänderung zu fordern. Besonders Seipel drängte auf diktatorische Vollmachten für den Bundespräsidenten und eine Einschränkung der Rechte des Parlaments. In zähen Verhandlungen konnten die Sozialdemokraten diesen Vorstoß abwehren. In der Verfassung von 1929 wurde die Rolle des Bundespräsidenten zwar aufgewertet, die parlamentarische Demokratie blieb aber noch intakt.
Im Oktober 1929 begann mit einem Börsenkrach in den USA die Weltwirtschaftskrise. In den gesamten 20er Jahren war die Produktivität der Industrie enorm gewachsen, vor allem wegen der Einführung der Fließbandarbeit. Waren gab es im Überfluss. Doch die Einkommen waren sehr ungleich verteilt: Die obersten 10% der Bevölkerung verdienten fast 50% aller Einkommen, während die übrigen 90% sich mit der anderen Hälfte begnügen musste. Das führte aber dazu, dass die Masse der Bevölkerung die angebotenen Waren gar nicht kaufen konnte. Nach dem Krieg konnten die USA große Mengen nach Europa vekaufen, doch inzwischen hatte sich die europäische Wirtschaft erholt und die Exporte gingen zurück. Viele Menschen kauften das, was sie brauchten, auf Kredit. Auch Unternehmen nahmen Kredite auf, um investieren zu können. Die Konkurrenz zwingt die Unternehmen, auch dann zu investieren, wenn eigentlich der Markt gesättigt ist. Jedes Unternehmen hofft, die eigenen Waren zu verkaufen und die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen. Viele Menschen kauften auch Aktien auf Kredit, in der Hoffnung, schnell genug Geld zu verdienen, um den Kredit zurückzahlen zu können. Doch irgendwann wollen die, die das Geld hergeborgt haben, es wieder zurückbekommen. Dann zeigt sich, dass eine Reihe von Unternehmen nicht genug verdient hat, weil die Bevölkerung nicht genug gekauft hat. Die Unternehmen können ihre Kredite nicht zurückzahlen, ihre Aktien verlieren an Wert, Panik bricht aus, alle wollen ihre Aktien verkaufen, dadurch sinken die Kurse, Betriebe müssen schließen, Arbeitende werden entlassen, noch weniger Waren können verkauft werden. Die Banken bekommen das Geld, das sie verborgt haben, nicht mehr zurück und können ihrerseits das Geld, das sie den SparerInnen und AnlegerInnen schulden, nicht zurückzahlen, und müssen in Konkurs gehen. Sie reißen die Unternehmen, an denen sie beteiligt sind, mit in den Strudel.
Die österreichische Creditanstalt – 1855 von Salomon Rothschild gegründet – war die größte Bank der Monarchie gewesen und immer noch eine der größten Banken Mitteleuropas. Viele große Unternehmen waren bei ihr verschuldet, und als diese Unternehmen infolge der Krise zahlungsunfähig wurden, musste schließlich auch die Creditanstalt 1931 Konkurs anmelden. Sie riss wiederum zahlreiche Banken und Unternehmen in der ganzen Welt mit in den Abgrund.
Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise 1933 gab es in Österreich 557.000 unterstützte Arbeitslose. Zusammen mit denen, die keine Unterstützung mehr bekamen, waren es 750.000, 38% der arbeitsfähigen Bevölkerung.
1930 verkündete Heimwehrbundesführer Steidle bei einer Heimwehrversammlung in Korneuburg ein politisches Programm, das als Korneuburger Eid bekannt wurde. Darin hieß es unter anderem: „Wir wollen nach der Macht im Staate greifen und zum Wohle des gesamten Volkes Staat und Wirtschaft neu ordnen. […] Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat! […] Wir kämpfen gegen die Zersetzung unseres Volkes durch den marxistischen Klassenkampf und die liberal-kapitalistische Wirtschaftsgestaltung.“ Auch Julius Raab, der spätere ÖVP-Bundeskanzler, damals Landesführer der Niederösterreichischen Heimwehr, schwor diesen Eid.
1930 waren in Österreich wieder Nationalratswahlen, und diesmal wurde die Sozialdemokratie wieder stärkste Partei im Parlament. Sie bekam 41% der Stimmen und 72 Mandate, die Christlichsozialen, unterstützt von Teilen der Heimwehr unter Emil Fey, bekamen nur etwas unter 36%. Die Großdeutschen gemeinsam mit dem Landbund kamen auf 11,6%. Der Heimwehrführer Ernst Rüdiger Starhemberg (aus dem Fürstengeschlecht der Starhemberg) kam mit seinem Heimatblock auf 6,2% der Stimmen und 8 Mandate im Nationalrat. Die Nationalsozialisten schafften es zwar noch nicht in den Nationalrat, bekamen aber immerhin 3% der Stimmen.
Auch wenn die Sozialdemokraten keine Regierung bilden konnten und noch weit von den angestrebten 51% entfernt waren, gab das Wahlergebnis den bürgerlichen Kräften zu denken. Der Führer des steirischen Heimatschutzes, der Judenburger Rechtsanwalt Walther Pfrimer, versuchte im September 1931 einen Putsch und rief sich zum Führer des Staates Österreich aus. Der Putsch brach zwar zusammen, doch im darauf folgenden Hochverratsprozess wurde Pfrimer freigesprochen. Die Regierung zog keinerlei politische Konsequenzen, obwohl nun wirklich an der antidemokratischen Gesinnung der Heimwehrbewegung kein Zweifel mehr sein konnte.
Im April 1932 wurden in fünf Bundesländern Landtagswahlen abgehalten. Nur die Sozialdemoktraten konnten ihren Mandatsstand halten. Die Christlichsozialen erlitten schwere Verluste. Und die Nationalsozialisten errangen auf einen Schlag in Wien 15, in Niederösterreich 8 und in Salzburg 6 Abgeordnete. Einer ihrer Wahlslogans war: „500.000 Arbeitslose, 400.0000 Juden. Ausweg sehr einfach! Wählt Nationalsozialisten!“
Nachdem mehrere schwache bürgerliche Regierungen gescheitert waren, beauftragte Bundespräsident Miklas den bisherigen Landwirtschaftsminister Engelbert Dollfuß mit der Bildung einer neuen Regierung. Dollfuß nahm gleich drei Repräsentanten der Heimwehr als Minister in seine Regierung.
Und schon startete diese Regierung ihren Angriff auf die demokratische Gewaltenteilung. Dollfuß‘ juristischer Berater grub ein Gesetz aus dem Kriegsjahr 1917 aus, das beim Übergang zur republikanischen Verfassung gewissermaßen übersehen worden war, das „Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz“. Es erlaubte der Regierung, Notverordnungen ohne Zustimmung des Parlaments zu erlassen. Allerdings nur „während der Dauer der durch den Krieg hervorgerufenen außergewöhnlichen Verhältnisse“ und auch nur auf wirtschaftlichem Gebiet. Den Zusammenbruch der Creditanstalt benützte Justizminister Schuschnigg, eine solche Notverordnung zu erlassen, und zwar, um zu ermöglichen, dass die Privatvermögen der Schuldigen am Bankenkrach gepfändet werden konnten. Damit brachte er die Sozialdemokratie in eine Zwickmühle: Einerseits forderte auch die Sozialdemokratie, dass die Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen wurden. Andererseits war die Umgehung des Parlaments ein Verfassungsbruch und eine ernste Bedrohung der Demokratie. Die Sozialdemokraten protestierten im Parlament heftig gegen diese Vorgangsweise, aber ohne Erfolg.
Die Rettung der Creditanstalt hatte den österreichischen Staat rund eine Milliarde Schilling an Steuergeldern gekostet. Dieses Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Der Staat kam auch seiner Verpflichtung, das Defizit der Bundesbahn zu decken, nicht nach, und so konnten die Gehälter der Bahnbediensteten für März 1933 nur in drei Raten ausbezahlt werden. Das war ein Bruch des Kollektivvertrags, und die Eisenbahner antworteten am 1. März mit einem zweistündigen Streik. Auch die christlichsozialen und die deutschnationalen Gewerkschaften beteiligten sich. Die Regierung grub eine kaiserliche Verordnung aus dem Weltkrieg aus und ließ eine große Anzahl von Eisenbahnern verhaften und mit Arrest- und Geldstrafen bedrohen.
Um die Eisenbahner zu schützen, verlangten die Sozialdemokraten eine dringliche Sitzung des Nationalrats für den 4. März. Zur Abstimmung standen drei Anträge: Die Sozialdemokraten forderten die Auszahlung der Gehälter nach dem Kollektivvertrag und die Straffreiheit für die Eisenbahner. Auch die Großdeutschen forderten Straffreiheit für die Eisenbahner. Der christlichsoziale Antrag trat für eine milde Bestrafung ein. Da die Sozialdemokraten mandatsstärkste Partei waren, stellten sie den ersten Parlamentspräsidenten, Karl Renner. Der ließ alle drei Anträge abstimmen. Der sozialdemokratische wurde abgelehnt, der großdeutsche Antrag mit einer Stimme Mehrheit angenommen. Doch stellte sich heraus, dass bei der Stimmabgabe Stimmzettel verwechselt worden waren. Nach einer heftigen Geschäftsordnungsdebatte, in der Renners Entscheidung über die Abstimmung angezweifelt wurde, legte Renner sein Präsidentenamt nieder, damit er bei der Wiederholung der Abstimmung mitstimmen konnte, was er als Präsident nicht durfte. Daraufhin legten auch der christlichsoziale zweite Präsident und der großdeutsche dritte Präsident ihr Amt nieder. Das Parlament ging ohne Beschluss auseinander. Für einen solchen Fall war in der Geschäftsordnung nichts vorgesehen. Nur der Nationalratspräsident konnte eine Sitzung einberufen.
Die Geschäftsordnungskrise hätte durch einen einvernehmlichen Beschluss aller Parteien bereinigt werden können. Der Bundespräsident hätte auch auf Antrag der Regierung den Nationalrat auflösen und Neuwahlen ausschreiben können. Doch Dollfuß wählte einen anderen Weg. Er erklärte, das Parlament hätte sich selbst ausgeschaltet, doch die Regierung sei weiterhin im Amt und von der Parlamentskrise nicht berührt. Als der dritte Nationalratspräsident Straffner seinen Rücktritt widerrief und für den 15. März eine Nationalratssitzung einberief, ließ Dollfuß das Parlament von Polizei besetzen. Die Zusammenkunft der Abgeordneten ließ er als „nicht genehmigte Versammlung“ auflösen.
Schon am 7. März verfügte die Dollfuß-Regierung die Vorzensur über die Zeitungen. Am 31. März verbot sie den Republikanischen Schutzbund. Am 21. April erließ sie ein Streikverbot. Der Aufmarsch am 1. Mai wurde untersagt. Am 10. Mai verordnete die Regierung die Aussetzung aller Wahlen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene. Am 20. Mai gründete Dollfuß die Vaterländische Front als Sammelbecken für alle vaterländisch und christlich gesinnten ÖsterreicherInnen. Sie wurde später zur austrofaschistischen Einheitspartei. Am 26. Mai wurde die Kommunistische Partei Österreichs aufgelöst. Ebenfalls am 26. Mai wurde aus Heimwehrmitgliedern eine Hilfspolizei, das „freiwillige Schutzkorps“ gebildet. Am 27. Mai traten dollfußtreue Verfassungsrichter zurück, um den Verfassungsgerichtshof lahmzulegen und so Einsprüche gegen die Verfassungsbrüche der Regierung zu verhindern. Am 19. Juni wurde die NSDAP und der steirische Heimatschutz verboten und einen Tag später – auf Wunsch der katholischen Kirche – der Freidenkerbund. Im August besuchte Dollfuß Mussolini, um Unterstützung gegen Hitlerdeutschland zu bekommen und versprach, energisch gegen die Sozialdemokratie vorzugehen. Am 20. September entfernte Dollfuß die letzten KritikerInnen seines autoritären Kurses aus der Regierung. Am 23. September beschloss die Regierung die Errichtung von Anhaltelagern für politische Häftlinge, am 10. November führte sie die Todesstrafe wieder ein.
Der Industriellen-Klub bedankte sich schon am 30. März bei der Dollfuß-Regierung: „Die Industrie erwartet von der Regierung, dass sie nunmehr, unbeirrt durch parteipolitische Gegensätze und Störungen oder sonstige Rücksichten, die Verordnungsgewalt in den Dienst der wirtschaftlichen Notwendigkeit stellt, wodurch sie sich den Dank aller wahrhaft vaterländischen Kreise sichern wird.“ Zur Rettung der Wirtschaft erwartete sie sich die „gründliche Beseitigung der Hemmnisse, die einer Senkung der Kosten im Wege stehen“, also der Gewerkschaften und des Streikrechts.
Im Dezember erließen die österreichischen Bischöfe einen Hirtenbrief, in dem sie dem Führer und den Mitgliedern der Regierung „rückhaltlose Worte vollsten Lobes und freudiger Anerkennung“ widmeten. „Die Phrase von der falsch verstandenen Volkssouveränität ist nicht nur gedankenlos, sondern auch unchristlich, ja im tiefsten Grunde atheistisch...“