Durch den Umsturz war 1919 das freie, allgemeine und gleiche Wahlrecht endlich auch in den Gemeinden eingeführt worden. Während die Sozialdemokratie bei den Nationalratswahlen von 1920 ihre Mehrheit verlor, behielt sie im Wiener Gemeinderat während der ganzen ersten Republik die absolute Mehrheit. Am 22. Mai 1919 wurde Jakob Reumann der erste sozialdemokratische Bürgermeister einer Millionenstadt. Die wirtschaftliche Lage Wiens war schwierig. Der Schwerindustrie und der Textilindustrie fehlten die Rohstoffe und Halbfertigwaren, die früher aus Gebieten der Monarchie gekommen waren, die nun im Ausland lagen. Der Konsumgüterindustrie wiederum fehlten die früheren AbnehmerInnen ihrer Luxuswaren. Viele Arbeitsplätze in der Verwaltungszentrale der früheren Monarchie gab es nun nicht mehr. Die Bevölkerung war verarmt, auf den Sparbüchern lag nur mehr halb so viel Geld wie vor dem Krieg. Sechs Siebentel der Bevölkerung waren proletarisch, also ArbeiterInnen und Angestellte und deren Familien. Die meisten Menschen arbeiteten in Klein- und Mittelbetrieben.
Trotz der Schwierigkeiten begann die sozialdemokratische Stadtverwaltung sofort mit einem großen Reformwerk, das international Beachtung fand. Die Hauptgebiete waren der Bau von Wohnungen, eine Schulreform, die Gesundheitsvorsorge und die allgemeine Sozialpolitik.
Der Lehrer Otto Glöckel hatte schon als Unterrichtsminister der ersten Koalitionsregierung eine Schulreform eingeleitet. Nachdem er aus der Regierung ausscheiden musste, setzte er seine Arbeit als Präsident des Wiener Stadtschulrats fort. Die Schule sollte keine „Drillschule“ mehr sein, sondern eine demokratische „Lern- und Arbeitsschule“. Die Prügelstrafe wurde abgeschafft. Vor dem Krieg waren bis zu 47 Kinder in einer Klasse gesessen, nun durften es nur mehr 29 sein. Der Unterricht sollte an die Lebenssituation der Kinder anknüpfen, im Sprachunterricht sollte zum Beispiel vom Dialekt ausgegangen werden. Grammatikregeln sollten die Kinder nicht einfach auswendig lernen, sondern gemeinsam mit dem Lehrer oder der Lehrerin erarbeiten. Eine Gesamtschule für alle 10- bis 14-Jährigen konnte Glöckel nicht durchsetzen. Doch die bisherige Bürgerschule wurde durch die Hauptschule ersetzt, und die Lehrpläne wurden so abgestimmt, dass es möglich wurde, nach der Hauptschule aufs Gymnasium zu wechseln. Glöckel führte auch die Schulgemeinden ein, die die Erziehung der Kinder zur Demokratie fördern sollten. Die Teilnahme am Religionsunterricht war nicht mehr vepflichtend, sondern freiwillig. Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer wurde nach den neuesten Erkenntnissen der Psychologie gestaltet. Anstatt zu strafen und zu verbieten, sollten die Lehrenden erkennen, was die Ursachen der Probleme ihrer Schülerinnen und Schüler waren.
Auch auf die Erwachsenenbildung legte die Gemeinde Wien großen Wert. Die Arbeitenden sollten die Möglichkeit bekommen, eine umfassende Bildung nachzuholen. Die Volkshochschulen, die schon zur Zeit der Monarchie gegründet worden waren, erhielten von der Gemeinde großzügige Förderungen.
Für die Gesundheits- und Sozialpolitik war der Arzt Professor Julius Tandler als Stadtrat verantwortlich. „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder“, war einer seiner Leitsätze. Ihm ging es darum, Krankheiten von vornherein zu verhindern, anstatt sie erst später zu heilen. Da er in den sozialen Verhältnissen die Ursache vieler Erkrankungen erkannte, engagierte er sich in sozialen Fragen und kam dadurch in Kontakt mit der Sozialdemokratie, der er sich bereits während des Ersten Weltkriegs anschloss. Die Tuberkulose, auch „Wiener Krankheit“ genannt, war die Volksseuche der Arbeiterschaft. Im Arbeiterbezirk Favoriten starben vor dem Krieg sechsmal so viele Menschen an Tuberkulose wie im noblen ersten Bezirk. Denn nicht jede/r, der oder die sich mit Tuberkulose infiziert, erkrankt auch, sondern vor allem Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Schlechte Ernährung, feuchte, enge Wohnungen, übermäßige körperliche Belastung und zu wenig Erholung fördern diese Krankheit. Unter Tandler wurden bessere Diagnosemethoden eingeführt und die Zahl der Betten in Lungenheilstätten in Wien erhöht. Doch zur Vorbeugung errichtete die Gemeinde Freibäder und Kinderfreibäder, Parks und Sportplätze und sorgte mit den Gemeindebauten für bessere Wohnverhältnisse. Vor dem Krieg endete in Wien die Tuberkulose für ein Drittel der Erkrankten tödlich. 1923 nur mehr für 13% und 1932 nur mehr für 9%.
Soziale Hilfe wurde in Tandlers Amtszeit von einer Gnade zu einem Recht für alle, die sie brauchten, und Tandlers Sozialpolitik wurde weltweit zum Vorbild. Im Wien der Zwischenkriegszeit entstand ein Netz von Kindergärten und Kinderhorten, Mutterberatungsstellen und Schulzahnkliniken – alles Einrichtungen, wie es sie in dieser Art und Dichte sonst nirgendwo gab. Tandler führte 1927 das kostenlose Säuglingswäschepaket ein – kein Wiener Kind sollte mehr auf Zeitungspapier zur Welt kommen. Bedingung war eine Vorsorgeuntersuchung der werdenden Mutter. Überreicht wurde das Wäschepaket damals noch persönlich im Rahmen eines Hausbesuchs, bei dem die Fürsorgerinnen auch einen Blick auf die familiären Verhältnisse des Neugeborenen werfen konnten. Vor dem Krieg starben in Wien mehr Kinder im 1. Lebensjahr als im übrigen Österreich, nämlich 15%. 1930 waren es nur mehr 7,5%, das lag unter dem gesamtösterreichischen Durchschnitt.
Zur Verbesserung der Hygiene trug bei, dass die Müllabfuhr kostenlos war. Strom, Gas und Wasser wurden zu Preisen geliefert, die nur ausreichen sollten, die Kosten zu decken. Die christlichsoziale Stadtverwaltung hatte damit hohe Gewinne gemacht.
Man hat Julius Tandler vorgeworfen, dass er theoretische Überlegungen über „lebensunwertes Leben“ angestellt hat. Er hat diesen Ausdruck wörtlich gebraucht, und zum Beispiel vorgerechnet, wieviel „die 30.000 Vollidioten Deutschlands diesem Staat“ kosten. Doch während die Nazis „Asoziale“ in Konzentrationslager sperrten und Menschen mit Behinderung umbrachten, diente Tandlers praktische Politik der Vorbeugung: „Was wir für die Jugendhorte ausgeben, werden wir an Gefängnissen ersparen. Was wir für Schwangeren- und Säuglingsfürsorge verwenden, ersparen wir an Anstalten für Geisteskranke.“
Das größte soziale Problem in Wien war die Wohnungsnot. In der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts hatten private Bauherren Zinskasernen aufgestellt, mit prächtig geschmückten Fassaden und elenden Wohnungen. Die typische Wohnung hatte ein Zimmer und eine Küche. Die Küche war gleichzeitig Vorraum und hatte nur ein Fenster zum Gang, also kein direktes Licht. In jedem Stockwerk gab es auf dem Gang ein Klo und einen Wasserhahn, die Bassena. Die Wohnungen waren überbelegt. Um die Miete zahlen zu können, mussten die Familien noch UntermieterInnen aufnehmen oder Bettgeher, also Menschen, die untertags zum Schlafen kamen und dafür zahlten. Noch während des Krieges hatte die kaiserliche Regierung ein Gesetz zum Mieterschutz erlassen. Um die Familien der eingerückten Sodaten zu schützen, durften die Mieten nicht erhöht werden. Durch die Nachkriegsinflation waren die Mieten noch stark entwertet worden. Auch nach dem Krieg trat die Sozialdemokratie dafür ein, den Mieterschutz beizubehalten. Doch auch die bürgerlichen Regierungen zögerten, ihn abzuschaffen, denn erhöhte Mieten hätten wiederum Lohnforderungen der Arbeitenden nach sich gezogen. Auch die kleinen Handwerker und Kaufleute waren auf den Mieterschutz für ihre Werkstätten und Geschäftslokale angewiesen.
Da die Hausherren nichts verdienten, gab es keinen privaten Wohnungsbau und die bestehenden Häuser wurden nicht renoviert. Die Gemeinde musste also selbst Wohnungen bauen. Die Gemeindebauten des Roten Wien bestimmen noch heute das Bild der Stadt. Die Gemeinde Wien erstellte in den 13 Jahren von 1920 bis 1933 58.000 Wohnungen in größeren Anlagen und 5.200 Siedlungshäuser. Sie schuf Wohnraum für 220.000 Menschen. Die Wohnungen hatten Klo und Wasser innen, elektrisches Licht und Gas. Sie waren zwar meist weniger als 50 Quadratmeter groß, doch standen den Mieterinnen und Mietern auch noch Gemeinschaftsbäder, Waschküchen, Leseräume und andere Gemeinschaftseinrichtungen zur Verfügung. Die meisten Gemeindebauten hatten große begrünte Höfe mit Ruhebänken und Kinderspielplätzen. In den größeren Anlagen wurden Geschäftslokale, Kindergärten, Mütterberatungsstellen, Bibliotheken, Vereinslokale von vornherein mit eingeplant.
Woher nahm die Stadt Wien das Geld für all das? Auch das Finanzierungsmodell des Roten Wien war einzigartig. Die Ausgangsbedingungen waren nicht nur ungünstig. Zwar war die wirtschaftliche Lage nach dem Krieg katastrophal. Doch konnte das Rote Wien auf einigen Errungschaften der Luegerschen Stadtverwaltung aufbauen: Hochquellenwasserleitung, Verkehrsbetriebe, Gaswerke und Elektrizitätswerke waren vorhanden. Zu Luegers Zeiten waren die städtischen Betriebe freilich auf Gewinn ausgerichtet gewesen. Außerdem hatte die Inflation es der Gemeinde leicht gemacht, die alten Schulden aus der Zeit der christlichsozialen Verwaltung zurückzuzahlen. Da die private Bautätigkeit darniederlag, waren auch die Bodenpreise niedrig, und die Gemeinde konnte durch Mittelsmänner die Grundstücke für die Gemeindebauten relativ günstig erwerben. Doch die finanzielle Grundlage des Roten Wien war das Steuersystem, für das der Finanzstadtrat Hugo Breitner verantwortlich war.
Wichtigste Punkte von Breitners Finanzpolitik waren:
1) Die Gemeinde nahm keine Kredite auf. Alle Investitionen der Gemeinde mussten aus den Einnahmen bezahlt werden. So blieb die Gemeinde unabhängig von Banken und das Budget wurde nicht durch Kreditzinsen belastet.
2) Seit 1922 war Wien ein eigenes Bundesland und konnte zusätzlich zu den staatlichen eigene Steuern erheben. Die Steuern, die die Gemeinde einhob, waren stark progressiv, das heißt, wer wenig verdiente, wurde kaum belastet, die hohen Einkommen aber umso stärker. Einige Steuern waren reine Luxussteuern, z.B. eine Steuer auf Reitpferde oder auf große Privatautos. Ein typisches Beispiel ist die Hauspersonalabgabe. Wer eine Hausgehilfin beschäftigte, musste noch keine Steuer bezahlen. Für die zweite waren 4 Schilling 16 Groschen zu bezahlen. Ein Haushalt mit 59 Dienstboten – das war der Haushalt der Bankiersfamilie Rothschild – bezahlte aber fast 300.000 Schilling an Hauspersonalabgabe, also ca. 5.000,- Schilling pro Dienstboten.
3) Die städtischen Unternehmen, z.B. Verkehrsbetriebe, Gaswerk, Elektrizitätswerk und so weiter, sollten keine Gewinne abwerfen, sondern nur kostendeckend arbeiten.
Das Budget von 1925 war zur Hälfte aus dem Anteil an den Bundessteuern und zur Hälfte aus den Gemeindesteuern finanziert. 40% der Gemeindesteuern brachte die Fürsorgeabgabe auf. Alle Gewerbebetriebe mussten 4% der Lohnsumme als Steuer abliefern, Banken 8%. Der nächste große Brocken war die Wohnbausteuer, sie machte ungefähr 20% der Einnahmen aus Gemeindesteuern aus. Je höher die Miete war, die jemand bezahlte, um so höher in Prozent war die Wohnbausteuer. Die BewohnerInnen billiger Wohnungen mussten also fast keine Steuer zahlen, doch die teuersten Wohnungen, das oberste halbe Prozent, brachte fast die Hälfte der Einnahmen. Das Wohnbauprogramm der Gemeinde konnte zu einem Drittel aus dieser Wohnbausteuer finanziert werden. „Unbeirrt von all dem Geschrei der steuerscheuen besitzenden Klassen holen wir uns das zur Erfüllung der vielfachen Gemeindeausgaben notwendige Geld dort, wo es sich wirklich befindet“, sagte Breitner. Von den Bürgerlichen wurde Breitner als „Steuersadist“ bezeichnet, weil ihm immer wieder etwas Neues einfiel, um das Geld dort zu holen, wo es wirklich war: „Die Betriebskosten der Schulzahnkliniken liefern die vier größten Wiener Konditoreien [...] Die Schulärzte zahlt die Nahrungsmittelabgabe des Sacher. Die gleiche Abgabe vom Grand-Hotel, Hotel Bristol und Imperial liefert die Aufwendungen für die Kinderfreibäder. Das städtische Entbindungsheim wurde aus den Steuern der Stundenhotels erbaut und seine Betriebskosten deckt der Jockey-Klub mit den Steuern aus den Pferderennen.“
Die rechte Seite griff die Sozialpolitik der Gemeinde vehement an: Die Gemeindebauten würden einstürzen, wurde vorherhergesagt, von einer Fürsorgeinflation gesprochen, und die Breitnersteuern würden die Wirtschaft schädigen. In Wahrheit aber brachte die Bautätigkeit der Gemeinde Wien Aufträge für die Wirtschaft und half, Arbeitsplätze zu erhalten. 1919, gleich nach dem Krieg, waren drei Viertel aller österreichischen Arbeitslosen in Wien, 1933, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, weniger als die Hälfte, nämlich 45%.
Die erfolgreichen Reformen im Roten Wien erleichterten zwar die Lage der arbeitenden Bevölkerung in der Hauptstadt, sie zeigten, dass eine andere Politik möglich war, doch sie konnten nichts an den grundlegenden Problemen des Landes ändern.