Protestwanderweg: Ich spreche mit Herrn Martin Ladstätter von der Organisation Bizeps. Darf ich zuerst einmal fragen: Was ist Bizeps?
Martin Ladstätter: Bizeps ist ein Zentrum für selbstbestimmtes Leben. Wir beraten behinderte Menschen im Bereich Selbstbestimmung und Gleichstellung.
Protestwanderweg: Selbstbestimmt leben – das klingt eigentlich so normal, so selbstverständlich. Ist es selbstverständlich?
Martin Ladstätter: Nein, aber es sollte so sein. Und das ist genau unsere Arbeit: Wie können wir es schaffen, dass behinderte Menschen gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft sind – und das äußert sich halt in verschiedenen Bereichen, zum Beispiel im Bereich Mobilität.
Protestwanderweg: Was sind so die größten Schwierigkeiten auf der Straße oder im Verkehr?
Martin Ladstätter: In der Vergangenheit vielleicht, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass überhaupt kein einziges Verkehrsmittel zum Beispiel für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer benützbar war in Wien. Gegenwart: Dass wir noch immer sehr große Probleme haben mit den Wiener Straßenbahnen. Knapp die Hälfte der Wiener Straßenbahnen ist für Rollstuhlfahrer oder Rollstuhlfahrerinnen unbenützbar, weil sie einfach viele Stufen hat.
Protestwanderweg: Da gibt's immer dieses Zeichen bei den Stationen mit diesem komischen Ding, das man erst nach längerem Grübeln als Symbol für Rollstuhlfahrer irgendwie entziffert …
Martin Ladstätter: Genau …
Protestwanderweg: … und da sieht man dann: Aha, in 25 Minuten kommt die nächste …
Martin Ladstätter: Genau, und das ist auch einer der Gründe, warum die Straßenbahnen nicht sehr beliebt sind, weil halt die Intervalle zwischen den barrierefreien Straßenbahnen teilweise extrem lang sind. Also so 20 bis 30 Minuten ist da durchaus üblich.
Protestwanderweg: Müsste man da eigentlich einen Fahrplan auswendig wissen oder …
Martin Ladstätter: Nein, das kann man nicht, die werden gereiht in den Garagen wie's gerade anfällt, also da kann man nicht sagen, das ist jede zweite, sondern manchmal sind's drei hintereinander, dann sind's wieder zwei nicht, dann sind's wieder drei nicht, dann sind's wieder zwei hintereinander, das ist total gemixt.
Protestwanderweg: Das ist also echt Glückssache.
Martin Ladstätter: Echt Glückssache. Man kann's nachschauen, nur das hilft einem halt nix, wenn man im Winter 25 Minuten in der Kälte steht. Also ich versuch persönlich immer, die Straßenbahn zu vermeiden, und das geht ja auch, man kann ja fast alle Strecken mit dem Bus oder mit der U-Bahn abdecken.
Protestwanderweg: Also Busse funktionieren inzwischen besser.
Martin Ladstätter: Alle Busse sind in Wien zugänglich. Die haben alle Rampen.
Protestwanderweg: Seit wann?
Martin Ladstätter: Das ist jetzt schon ein paar Jahre her, war aber ein ganz schwieriger Kampf. Zuerst hat's nämlich geheißen: Behinderte Menschen brauchen die öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu benutzen, es gibt in Wien einen Fahrtendienst für behinderte Menschen. Das ist ein Sonderfahrtendienst, der behinderte Menschen von zu Hause abholt und dort hin bringt, wo sie halt hin wollen. Das ist ein total aussonderndes System, das auch nicht sonderlich gut funktioniert, aber in Wien besteht. Wir von der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung haben natürlich gesagt: Wir wollen öffentliche Verkehrsmittel – und das sagt ja auch schon der Name: Verkehrsmittel für die Öffentlichkeit – genau so nutzen können wie alle anderen. Das heißt: Unsere Bedürfnisse müssen mit abgedeckt sein. Natürlich nicht bei den alten Fahrzeugen: Einen Hochflurbus umzubauen, ist zwar technisch möglich – das hat man auch in Deutschland probiert mit einem Lifteinbau – ist aber dermaßen ineffizient von der Kostenstruktur, dass man sagt: Okay, bei allen Neufahrzeugen muss Barrierefreiheit geschaffen werden.
Aber nicht in Wien …
Wien bekam die ersten Niederflurbusse, die unbenützbar waren für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, weil sie keine Rampen hatten.
Protestwanderweg: Also der war zwar niedrig, aber man ist trotzdem nicht reingekommen …
Martin Ladstätter: Genau. Niedrig heißt dann halt 27, 28 Zentimeter über Straßenniveau, oder – falls man halt da einen Gehsteig hat – so 13 Zentimeter, aber eine 13-Zentimeter-Stufe ist für einen Rollstuhlfahrer so nicht benützbar.
Protestwanderweg: Ein Kinderwagerl kann man da noch reinheben.
Martin Ladstätter: … kann man reinheben, ist aber auch anstrengend. Und wir waren total frustriert, dass die Wiener Niederflurbusse kaufen, die unbenützbar sind, um unser Steuergeld – und haben dagegen Protest gemacht. Zuerst mit Schreiben, Versuchen, mit den Wiener Linien ins Gespräch zu kommen … Das hat alles nichts genützt! Und irgendwann haben wir dann begonnen, Busse einfach zu besetzen.
Protestwanderweg: Wie haben die reagiert, die Wiener Linien, was waren ihre Argumente?
Martin Ladstätter: Sie haben argumentiert am Anfang: Wer nicht in den Bus kommt, kommt auch schon gar nicht bis zur Station.
Protestwanderweg: Also die haben gesagt: Das ist sinnlos.
Martin Ladstätter: Ja, auf gut Deutsch: Ja, das ist sinnlos, weil: Es gibt ja auch auf der Straße Stufen – damals gab's noch sehr viele nicht abgeschrägte Gehsteige, die ja teilweise 10 Zentimeter hoch waren – und sie haben gemeint, wenn man über die Gehsteige kommt, dann kommt man auch in den Bus hinein. Aber das war uns egal, wir haben gesagt: Wir haben ein Recht darauf! – Was de facto damals so noch nicht war, diese Rechte gab's damals noch nicht. Wir haben da eher moralisch mit Recht argumentiert. – Wir haben ein Recht darauf, dass öffentliche Beförderungsmittel so eingesetzt werden, dass sie uns nicht ausschließen. Und wir haben gesagt, wenn das nicht funktioniert, dann müssen wir das aufzeigen und haben, wie gesagt, eben Busse besetzt.
Protestwanderweg: Besetzt! Wie haben Sie das gemacht?
Martin Ladstätter: Zuerst einmal die Begebenheiten angeschaut: Wie kann man sicher einen Bus blockieren? Wir haben uns die Linie 13A ausgesucht, weil die unweit von unserem Büro war, haben gesehen, wo der Bus in die Station einfährt, und wenn wir uns dann, nachdem er eingefahren ist, genau davor und dahinter stellen, kommt so ein Bus nicht mehr weg. Und so haben wir's gemacht.
Protestwanderweg: Wann war das?
Martin Ladstätter: Das war 1996 und war eine Riesen-, Riesen-Aktion in Wien, weil es erstens untypisch war, dass behinderte Menschen aktiv auftreten – das ist ein bissel anders als heute – nämlich für sich selber sprechen, und zweitens gleich in einer Form, die auch unbekannt war, nämlich auf die Straße gehen und wirklich wilden Protest machen.
Protestwanderweg: Wie viele Menschen waren da beteiligt?
Martin Ladstätter: Einen Bus zu kapern, das ist ganz leicht, da braucht man nur 20 Rollstuhlfahrer. Es gingen sogar zwei in Wirklichkeit, einer davor und einer dahinter, aber man muss natürlich auch schauen, dass das medienmäßig was hergibt, mit ein paar Transparenten und so – das geht ganz leicht. Und das war wichtig, und das haben wir mehrfach gemacht.
Protestwanderweg: Wie haben die Passagiere eigentlich reagiert, die jetzt mit dem Bus irgendwo hinfahren wollten? Was haben die gesagt?
Martin Ladstätter: Überraschend – sehr überraschend: Wir haben uns darauf eingestellt, dass uns die beschimpfen werden, wenn wir sie in ihrem Alltag stören. Es gab ganz, ganz wenige, vielleicht eine Handvoll von Leuten bei all diesen Besetzungen, die das wirklich gemacht haben. Aber die überwiegende Mehrheit hat die Informationszettel, die wir natürlich ausgeteilt haben, damit die Leute auch wissen, warum das jetzt ist, gelesen und haben gesagt: „Aha, ich dachte eigentlich, die neuen Niederflurbusse sind zugänglich“, und haben eigentlich Sympathie unseren Aktionen gegenüber gehabt. Die Medien haben das dann ganz toll aufgegriffen, weil die eigentlich auch geglaubt haben, dass neu gekaufte Busse für Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen zugänglich sind, und alle waren völlig überrascht, dass dem nicht so war.
Protestwanderweg: Wie haben dann die Wiener Linien reagiert? Haben die die Polizei gerufen oder was?
Martin Ladstätter: Nein. Sehr bockig haben die zuerst reagiert. Sie haben gesagt: „Wir haben das mit einer Behindertenorganisation so ausgemacht“, und wir haben gesagt: „Ja, das mag wohl so sein, das ist uns aber egal, wenn die Busse nicht zugänglich sind, dann zeigen wir das auf.“
Die Wiener Linien haben ihren eigenen Sicherheitsdienst. Ich weiß nicht, ob Sie das kennen: Wenn ein Unfall mit einem Bus oder einer Straßenbahn passiert, sind die Fahrzeuge der Wiener Linien schneller vor Ort als die Polizei. Und bei den Besetzungsaktionen das Gleiche: In dem Moment, wo der Fahrer angibt, es ist etwas notwendig, steht sofort jemand von den Wiener Linien in so einem kleinen PKW da. Die haben das natürlich nur beobachtet, denn was sollen sie sonst machen. Bei unseren Straßenbahnaktionen war auch teilweise die Polizei da und hat dann aufgenommen, wie die Personen heißen und so, aber das war uns egal, weil wir wollten ja, dass es öffentlich ist.
Protestwanderweg: Straßenbahnaktionen haben Sie auch gemacht?
Martin Ladstätter: Wir haben auch Straßenbahnen blockiert, die sind dann gestanden zum Beispiel von der Universität bis zur Urania – dreiviertel Stunde die Ringlinie – was auch relativ viel Aufsehen erregt hat.
Protestwanderweg: Die haben ja ein Problem: Die können nicht überholen.
Martin Ladstätter: Richtig! Das war der Unterschied zum Autobus. Als wir den 13A blockiert haben – da sind die Wiener Linien extrem schnell – der zweite Autobus ist noch in diese Gasse hineingefahren, der dritte nicht mehr, der ist schon in der Nebengasse gefahren. Da reagieren die sehr schnell. Was uns ja egal war. Unser Ziel war ja nicht, die Linien lahmzulegen, sondern für die Journalistinnen und Journalisten und Fotografen Bilder zu haben. Und Anliegen zu haben, die sie transportieren können. Da reicht ein einziger Bus, der steht. Bei der Straßenbahn ist es halt was anderes, die kann halt wirklich nicht ausweichen, aber wenn man einmal eine harte Aktion setzen will, dann muss man auch damit leben.
Protestwanderweg: Und irgendwann sind aber die Wiener Linien auf Ihre Forderungen eingestiegen. Oder haben die versucht, das abzuwiegeln oder zu beruhigen oder …
Martin Ladstätter: Also in der ersten Phase haben sie's bestritten, dass es ein Problem sei, „weil wir haben's ja mit einer Organisation geklärt“.
Protestwanderweg: Aber das war nicht Ihre Organisation.
Martin Ladstätter: Nein, das war nicht unsere Organisation, vor allem war das Faktum falsch. In der zweiten Phase haben sie einmal begonnen, das Problem zu analysieren, warum wir überhaupt da ein Problem sehen. Dann kam der Druck der Medien und der Politik, weil die Wiener Linien, das ist ja kein Privatbetrieb, den zahlen ja wir, die Stadt, und die Politik hat dann gesagt: „Na ja, das wollen wir aber eigentlich nicht, dass wir viel Geld für neue Fahrzeuge ausgeben und in den Zeitungen steht, wie schlecht die sind. Nehmt euch des Problems an!“ Und Monate später haben die Wiener Linien dann gesagt: „Okay, wir setzen uns mit euch einmal zusammen, zeigt uns, wo das Problem ist, und entwickeln wir gemeinsam eine Problemlösung.“ Und das haben wir dann auch gemacht, und 1998 ist dann der erste barrierefreie Testbus der Wiener Linien auch wieder auf der Linie 13A gefahren.